Sie liebt das Abenteuer. Frei fühlt sie sich erst, wenn ihr das Herz bis zum Hals schlägt und das Adrenalin ihre Sinne betäubt. Andere nennen es Angst, für sie ist es eine Herausforderung. Je wilder je höher je weiter, ist ihr Motto. Der Anker auf ihrem Unterarm war ein Schrei nach Freiheit und hat sie zugleich geerdet. Ihre Haare fallen ihr in wilden, sonnenblondierten Wellen über die Schultern, hinter dem linken Ohr hat sie sie aus einer Laune heraus abrasiert. Mit ihren Hosen wie aus 1001er Nacht ist sie zweifellos eine Erscheinung im einheitsjeansblauen und nadelwaldgrünen Umfeld ihrer ländlichen Umgebung. Ihr in sich ruhendes Lächeln strahlt den Duft nach Fernweh aus, der sie umgibt. Sie hat viel gesehen von der Welt, und hat trotzdem ihren Platz gefunden. Als sie mit wackeligen Knien den Sicherheitsbügel des Tagadas anhebt, ist ihr Herz mit Glück erfüllt. In diesem Moment wird ihr einmal mehr klar, dass sie hier hin gehört.
Er lebt schon immer und jetzt auch noch da. Geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen. Erster Kuss, erste Liebe, erster Rausch. Lange Nächte, viel Verzweiflung, endloses Warten und schließlich – angekommen. Mit Mitte dreißig ist er erwachsen geworden und steht mit beiden Beinen im Leben. Zwei Kinder springen beim Frühstück auf seinen Schoß, streiten sich um den besten Platz und zerren schließlich Papa hinter ihnen aus der Tür hinaus. Sein Haus, sein Baum, seine Familie. Im Grünen, da, wo schon seine Eltern mit ihm im Winter Schneemänner und im Sommer Sandburgen gebaut haben. Da, wo jetzt seine Kinder auf Teddybären zeigen und Schaumrollen verzehren. Da, wo Papa ihnen kaum hinterher kommt, zwischen Karussell und Entchen ziehen und Autodrom. Der gleiche Mann, der des nachts durch die Bars des Landes tourt und die Charts der Alternativszene aufmischt. Der sich vor guter Kritik kaum retten kann und der schon ganze Hallen mit seinen Akkorden zum Tanzen brachte. Die beste Musik der Welt kommt aus der Plastiktrompete seiner Tochter, die er ihr am Schießstand erspielt hat.
Sie hat es endlich geschafft – sie hat die Matura bestanden und nichts und niemand kann sie mehr bremsen. Mit ihren Freunden sitzt sie auf harten Bierbänken, vor ihnen leere Becher und volle Gläser, denn heute wird gefeiert. Die ganze Welt scheint ihnen zu gehören, niemals werden sie wieder so frei und ungebunden sein, wie in diesem Sommer. Wohin sie gehen wird, weiß sie noch nicht, viele der Freunde, die links und rechts von ihr sitzen, zieht es in die Ferne. Die große Stadt soll es sein oder eine etwas kleinere. Hauptsache eigene vier Wände. Manche wollen auch ins Ausland, sie haben absolut noch keinen Plan, wohin ihre Reise sonst gehen soll. Nächstes Jahr um diese Zeit aber, egal wohin ihr Weg sie bis dahin führt, sitzen sie wieder da. Sie werden wieder trinken, auf ihr Wiedersehen und weil es immer einen Grund zum Feiern gibt. Und dann werden sie lachen und sagen „Das machen wir ab jetzt jedes Jahr so, bis wir zu alt zum Trinken sind!“ Vielleicht werden sie irgendwann alt sein und es werden nicht mehr alle übrig sein. Die meisten aber werden wieder hier sitzen und sie werden sich Geschichten erzählen und gemeinsam an diesen Sommer der grenzenlosen Möglichkeiten zurückdenken.
Mit Mitte Zwanzig hat er hier geschafft, was nirgends anders möglich gewesen wäre: Er ist sein eigener Chef und lebt von dem, was ihn glücklich macht. Betrachtet man die Sache objektiv, gibt es viele wie ihn, seine Kunst ist nicht einzigartig und anderswo hätte er vielleicht keine Chance. Aber hier sticht er heraus wie ein bunter Hund. Wegen seinem schiefen Hut würde man ihn in der Stadt einen Hipster nennen, einen von Tausenden. Aber hier erkennt man ihn, mit oder wegen dem Hut, wie er da an seinem Stand steht, man kommt auf ihn zu und spricht ihn an. „Was für ein Bild, was für eine Kraft!“ Manche zerreißen sich auch das Maul über die großen Brüste, die weißen Hintern und das Zuviel an Rot in seinem Werk. „Und hast du schon gesehen, der hat zwei nackte Frauen gemalt“ flüstert sie auf dem Kirchenvorplatz ihrem Gatten zu. Was die Leute reden ist ihm scheinbar egal, manchmal kümmert es ihn auch, aber letztlich zählt nur, DASS man von ihm spricht.
Inmitten der Bierzelte und Fahrgeschäfte und Ausstellerstände, der Hobbyausstellungen und Kleintierzüchterpräsentationen, Verkaufswaren und Schießstände fahren sie Achterbahn und Ringelspiel, drehen sich im Karussell des Lebens bis ihnen schwindelig wird. Manche werden gefressen vom Leben, ausgespuckt und wiederhergestellt, andere blicken in eine ungefährlich sichere Zukunft die trotzdem voller Loopings sein kann, wenn sie sich trauen. Einigen wird es den Magen ausheben, wenn sie zu schnell in die Kurven fahren. An diesem Ort aber bleibt alles gleich und jedes Jahr findet wieder ein Fest statt und jedes Jahr sind sie wieder da, oder andere, die ihnen ähnlich sind. Und für einen kurzen Moment werden sie wieder alle gleich sein, ihre Kirtagsleben.
Text von Katia Kreuzhuber
Illustrationen von Elena Anna Rieser