Armut

Ich gehe mit meinen Begleiterinnen die Straße entlang. Überdecken Wolken die Sonne, wird es empfindlich kühl, doch hat sie freie Bahn, knallt sie mit aller Kraft herunter auf die kahlrasierten Köpfe der Männer und die Perücken der Frauen. Der Wind schlägt uns entgegen und bildet kleine Staubwirbel auf dem Boden. Wie auf Kommando senken alle den Kopf, wir wollen den Staub nicht in die Augen bekommen. Der Asphalt wird zu Erde, die Ziegel der Häuser zu Lehm. Wir sind auf dem Weg zu fünf Geschwistern, die einmal im „RescueCentre“, einer Auffangstation für Straßenkinder in der ich arbeite, gelebt haben und dann zurück zu ihrer Mutter gebracht wurden. Wir wollen wissen, ob es den Kindern gut geht.

Es ist Ostersonntag, und je heruntergekommener die Gegend wird, desto betrunkener sind die Leute. Hier werden keine Zigaretten mehr geraucht, sondern ausschließlich Marihuana. Neben dem Weg haben sich durch Erosion tiefe Furchen in die Erde gegraben, wer dort hinunterfällt, bleibt auch unten. Wo die Gräben nicht so tief sind, wühlen die Schweine mit ihren Rüsseln durch die graubraune Masse aus Abwasser, selbstgebrautem Alkohol und Undefinierbarem. Etwas weiter streiten sich zwei Ziegen um einen Plastiksack, der Gewinner verschlingt ihn gierig.
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Hinter mir hat sich eine Horde Kinder versammelt, ein Mzungu – ein Weißer – kommt hier nicht alle Tage vorbei. Kein Kind trägt Schuhe, manche haben nur ein Kleidungsstück am Leib, ein kleines Mädchen greift nach meiner Hand, es wird nur notdürftig von einer zerrissenen Unterhose bedeckt. Armut ist allgegenwärtig. Wir betreten den Hof der kleinen Siedlung, es stinkt fürchterlich. Zwischen den sich gegenüberstehenden Häusern ist ein Graben, bis oben gefüllt mit Urin und Alkohol. Zäh und träge steigen Blasen auf und platzen an der Oberfläche. Der stechende Geruch steigt mir zu Kopf und mir wird schwindelig.

Obwohl ich nun zum vierten Mal hier bin, erschrecke ich über die Situation, in der diese Menschen leben. Koi, das zweitjüngste der fünf Kinder, kommt uns entgegengelaufen. Sie hat stark abgenommen, die Augen sind groß und die Schatten darunter noch größer, die Wangen sind eingefallen. Und trotzdem strahlt uns dieses Kind an, als wäre Weihnachten. Sie öffnet die Tür zu dem Raum, in dem sechs Leute auf einer Matratze schlafen. Er ist nicht größer als eine Bushütte. Erbrochenes auf dem Boden, verrottende Bananenschale in der Ecke. Koi kriecht auf die Matratze und versucht, ihre Mutter aufzuwecken. Sie hat getrunken und ist mit einem Chapati – einer Palatschinke – in der Hand eingeschlafen. Neben ihr liegt das jüngste Kind, ein Mädchen von acht Monaten, in seinem eigenen Kot. So sehr sich Koi auch bemüht, die Mutter gibt kein Lebenszeichen von sich. Sie scheint das Bewusstsein verloren zu haben. Eine Schwester und der Bruder kommen und erzählen uns, dass die älteste Schwester, Mary, vor einer Woche weggelaufen sei. Wir treffen sie später auf dem Weg zurück.
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Nun kommt die Schwester der Mutter, sie ist ebenfalls betrunken, und meint, die Mutter habe den ganzen Morgen getrunken. Auch sie versucht vergeblich, sie aufzuwecken. Laut ihr hat Mary eine Woche zuvor 100 Schilling, was weniger als einem Euro entspricht, gestohlen und ist ausgerissen. Mary wird uns später erzählen, sie wurde von ihrer Mutter geschlagen, weil sie sich darüber beschwert hatte, dass sie den ganzen Tag nichts zu essen bekommen hatten. Die Schwester der Mutter nimmt das schmutzige Baby und entkleidet es, dabei wird eine faustgroße Wucherung am Nabel des Mädchens sichtbar. Einem Doktor wurde das noch nie gezeigt. Auf die Frage, was sie heute gegessen habe, meint Koi, sie habe das letzte Mal vorgestern etwas zu sich genommen. Bestürzung überkommt mich und ich wünsche mir, ich wäre schon früher hierher gekommen. Das letzte Mal, als wir die Kinder besucht haben, sah es aus, als würde sich die Lage endlich stabilisieren. Doch die Mutter scheint dem Fluch des Alkohols erneut unterlegen. Im Gespräch mit Nachbarn erfahren wir, dass sie auch wieder selber braut.

Wir haben genug gesehen, morgen werden die Kinder zurück  ins „RescueCentre“ gebracht. Sogar meine zwei Kolleginnen, die schon viel gesehen haben, sind bestürzt. Während des Rückwegs quält mich das Wissen, dass unzählige Kinder unter denselben oder sogar schlimmeren Umständen leben müssen.

Text von Sarah Maringer

Beitrag #01 – Fremde Welt

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